Hilfreiches Erleben aktivieren

Aus der Reihe HYPNOSYSTEMIK – WAS IST DAS EIGENTLICH?

 

Wie unter „Wie man sich ein Problem baut“ erläutert, ist ein entscheidender Faktor, der zum Problem- oder Lösungserleben führt, die Bewertung eines Phänomens.
Im folgenden Artikel erfahren Sie, welche weiteren Erlebnisfaktoren es zum Herstellen eines Problems (oder einer Lösung) braucht und warum das alles trotzdem nicht so einfach ist.

Hypnosystemik — Grafik von möglichen Faktoren von Problemerleben

Die Bewertung eines Phänomens ist nur ein Erlebnisfaktor von vielen, aus denen sich ein Problemerleben zusammensetzt.
Wir können uns Probleme (und alle anderen Erlebniszustände) vorstellen als ein komplexes Netzwerk aus vielen verschiedenen Erlebnisfaktoren (siehe Schaubild). Diese stehen nicht nur in Wechselwirkung zum jeweiligen Erlebniszustand (z.B. Problemerleben) sondern beeinflussen sich auch gegenseitig.

Hypnosystemik — Erlebniszustände grafisch dargestellt

Erlebniszustände kann man besonders gut mit der Metapher der inneren Anteile beschreiben. Je nachdem welcher Erlebniszustand bzw. Anteil gerade aktiviert ist, fühlen wir uns unter Umständen wie ein völlig anderer Mensch. Jeder Anteil/Erlebniszustand verfügt über ein bestimmtes Netzwerk aus Erlebnisfaktoren, der ihn von anderen Anteilen unterscheidet.

Beispiel Regen:
Erlebe ich den Regen als Problem, habe ich eine entsprechende Körperhaltung (z.B. angespannt), eine entsprechende Mimik (z.B. grimmig), eine entsprechende Atmung (z.B. schnell und angestrengt), ich fühle mich wie siebzig (Altersempfinden) und „kämpfe“ gegen die Wirklichkeit (Bewertung). Empfinde ich den Regen hingegen nicht als Problem, fahre ich vermutlich langsamer, atme genussvoll ein und aus, mein Körper ist aufrecht und entspannt, ich lächle und fühle mich plötzlich wie ein ausgelassenes, fröhliches Kind. Scheinbar sind hier zwei unterschiedliche Menschen (Anteile) auf dem gleichen Fahrrad unterwegs. Nur wie bestimme ich, wer ans Steuer darf?

Erlebnisnetzwerke aktivieren, wie geht das?

Hypnosystemik — Grafik von möglichem eigenen Erlebnisrepertoire

Um das Problemerleben zu beenden, müssen wir den aktiven Erlebniszustand (bzw. den aktivierten Anteil) unterbrechen und einen hilfreicheren Erlebniszustand aus unserem Erlebnisrepertoire aktivieren.

Welchen Erlebnisfaktor wir uns hierfür zu Nutze machen wollen, ist uns überlassen. Denn die erfolgreiche Veränderung eines Erlebnisfaktors (z.B. meiner Atmung) führt aufgrund von Wechselwirkungen zur Veränderung anderer Faktoren (z.B. Mimik und Körperhaltung) und kann damit die Aktivierung eines ganz neuen Erlebniszustandes/Anteils bewirken. Ich fühle mich plötzlich „wie ein neuer Mensch“.

Hypnosystemik — Tabellarische Liste von Erlebnisfaktoren

Veränderung geschieht durch das Einführen von Unterschieden.

An welchem Erlebnisfaktor könnte ich also ansetzen und einen Unterschied einführen, der zum Aktivieren eines neuen, hilfreicheren Erlebniszustandes führt? Schauen Sie sich hierfür gerne die Übersicht über mögliche Erlebnisfaktoren an.

Im Beratungs- oder Coachingprozess werden Sie herausfinden, mithilfe welcher Erlebnisfaktoren Sie am leichtesten ein hilfreicheres Erleben aktivieren können.

Beispiel: ein Problem mit dem Namen „Angst vor Gruppen“
Jonas hat Angst vor unbekannten Menschengruppen und meidet deshalb die Zusammenkunft von Menschen, mit denen er interagieren müsste. Dies wiederum macht es Jonas schwer, neue Kontakte zu knüpfen, worunter er zunehmend leidet.
Im Rahmen eines Coachings überprüft Jonas welcher Erlebniszustand in diesen „Gruppensituationen“ aktiviert wird und zu welchem ICH er damit wird.
Es wird deutlich, dass er in seinem inneren Erleben zu einem fünfjährigen Jungen wird (Altersempfinden), welcher mit der Situation restlos überfordert ist. Doch dem nicht genug, es meldet sich noch eine weitere innere Stimme (Anteil), die ihn pausenlos dafür abwertet, so unfähig zu sein. Jonas kann spontan viel mit der Metapher der inneren Anteile anfangen und begibt sich auf die Suche nach einem Helfer-Anteil, der einen Unterschied in das innere Bild einführen soll.
Er bedient sich hierbei seiner Erinnerungen an positive Erlebniszustände, in denen er Zugang zu mehr Kompetenzen hatte.
Wie bewegt sich Jonas, wenn er sich sicher fühlt? Wie ist dann seine Atmung? Wie alt müsste er innerlich sein um einer neuen Gruppe gut begegnen zu können? Welche Art der inneren Dialoge wäre hilfreich? Wo wäre ein sicherer Platz für den kleinen Jungen? Wäre der ihn abwertende Anteil zufrieden, wenn der neue Helfer-Anteil das Steuer übernimmt? Wie genau sieht dieser Helferanteil aus? Gibt es eine kleine unauffällige Bewegung, die helfen könnte sich an dieses Helfer-ICH zu erinnern, wenn es aktiviert werden soll?
Jonas meldet sich zum Chor an. Es gelingt ihm, statt des kleinen Jungen (Erlebniszustand-Problemerleben), den Helfer-Anteil (Erlebniszustand-Lösungserleben) zu aktivieren, er fühlt sich sicherer, erwachsener und hat Freude am gemeinsamen Singen.

Warum das alles dann trotzdem nicht ganz einfach ist.

Man könnte nun denken: Na, wie doof muss ich eigentlich sein, dass ich das nicht hinkriege! Wie kann es sein, dass ich überhaupt noch Probleme empfinde und mich nicht ausschließlich dafür entscheide, nur noch Lösungen wahrzunehmen? Warum hypnotisiere ich mich ständig ins Problemerleben hinein?

Der Hauptgrund hierfür ist der, dass wir uns in der Regel eben nicht bewusst in ein Problemerleben begeben. Vielmehr werden wir von einem uns nicht bewussten Teil unseres Selbst gelenkt. Um diesen Teil zu anderen Lösungsversuchen zu bewegen, müssen wir ihn erst einmal ausfindig machen. Wir müssen herausfinden, wofür er den Lösungsversuch anwendet und was er stattdessen tun könnte. Das wiederum klingt dann vielleicht doch so, als wäre es gut, sich Unterstützung zu holen, oder?

Hypnosystemik — Grafik über die Einladungen aus unserer Umwelt.

Ein weiterer Grund, warum alles etwas komplizierter ist: Wir sind mit unserem Kopf nicht allein auf der Welt. Es gibt noch andere Köpfe und wir sind eingebunden in ein größeres System, mit dem wir in ständiger Wechselwirkung stehen. Auch wenn ein Problem oder Lösungserleben in unserem Kopf entsteht, ist dies nicht gänzlich unabhängig von äußeren Einflüssen. Es gibt zahlreiche „Einladungen“ der Umwelt, etwas als Problem zu erleben (siehe Schaubild). Diese Einladungen können mitunter so stark sein, dass wir uns völlig ausgeliefert und machtlos fühlen, an unserem Umgang mit den Dingen etwas zu ändern.

Beispiel: Ein Problem mit dem Namen „Arbeitslosigkeit“

Claudia ist arbeitslos und zunächst gelingt es ihr, auf die positiven Aspekte dieses Phänomens zu fokussieren. Sie denkt sich „Ich nehme mir jetzt ein bisschen Zeit für mich, sortiere mich, genieße den Sommer und dann wird sich sicherlich etwas Neues ergeben.“ Sie hat also zunächst einen hilfreichen Erlebniszustand aktiviert.
Doch dann kommen die Einladungen der Umwelt. Der Partner macht Druck: „Wie soll das finanziell alles funktionieren?“, die Mutter: „Bist du sicher, dass du nochmal etwas Gutes findest?“, das Amt: „Wenn Sie innerhalb eines Jahres nichts finden, stecken wir Sie in eine Maßnahme.“, die Vermietern: „Wenn Sie bis Montag nicht die Miete zahlen, muss ich Ihnen kündigen.“, das Wetter: „Regen, grau, Weltuntergangsstimmung“.
Diese starken Einladungen der Umwelt abzulehnen, ist nicht immer einfach und oftmals hat auch gerade das Annehmen der Einladungen einen anerkennenswerten Sinn. Im oben genannten Beispiel, könnte ein mangelndes Problemerleben beispielsweise negative Auswirkungen auf die Beziehung zu den Mitmenschen haben: „Ich erkenne dich gar nicht wieder, du bist total abgehoben und realitätsfremd! Wie es finanziell mit uns weitergeht, ist dir scheinbar völlig egal!“

Wofür also ein Coaching?

Am Ende nochmal eine kleine Zusammenfassung, was bei einem hypnosystemischen Coaching passiert und wobei ein hypnosystemisch arbeitender Coach unterstützen kann:

Sie machen sich gemeinsam auf die Suche nach den Erlebnisfaktoren, die Ihr individuelles Erleben am nachhaltigsten und effektivsten beeinflussen und entwickeln Handlungsstrategien, diese eigenständig im Alltag zu nutzen. Sie lernen Ihre eigenen Kompetenzen hinter scheinbar destruktivem oder sinnlosen Verhalten zu erkennen und im Sinne eines Lösungserlebens zu nutzen. Sie setzen sich mit Ihrem Problem an einen Tisch und überlegen, was Ihre innere Familie für ein erfüllendes Miteinander braucht. Sie finden gemeinsam mit Ihrem Coach heraus, wie Sie die Einladungen der Umwelt zum Problemerleben erfolgreich ablehnen können. So steht einem Lösungserleben nichts mehr im Wege.

Weitere Artikel aus der Reihe: HYNOSYSTEMIK – WAS IST DAS EIGENTLICH?

  1. Der Hypnosystemische Ansatz – Eine Einführung
  2. Wie man sich ein Problem baut – Und wie uns das Problem beim Bauen einer Lösung helfen kann
  3. Probleme in Lösungen umbauen Hilfreiches Erleben aktivieren
  4. Paartherapie für mein Problem und mich – Probleme als intrapsychische Beziehungsangelegenheiten.

Quellen: Meine Texte entspringen dem hypnosystemischen Gedankengut von Gunther Schmidt, welches ich im Rahmen seiner Fortbildungen verinnerlichen konnte. Ich gebe sein Wissen in eigenen Worten wieder und ergänze es durch eigene Gedanken und Schlussfolgerungen. Größtenteils nachzulesen in – Schmidt, Gunther (2013): Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten, 5 Auflage, Heidelberg: Carl-Auer